Der Wecker klingelt um 06:00 Uhr morgens. Der Bus geht zwar schon in einer Stunde aber der Busbahnhof ist fünf Minuten fußläufig vom Hostel entfernt. Wir machen uns kurz fertig, nehmen den am Vortag gepackten Rucksack mit Campingausrüstung Kleidung und Lebensmittel für einige Tage auf den Rücken und marschieren los. Was wir noch nicht ahnen ist, dass die nächsten Tage von Daunenjacke über Regenponcho und Sonnenhut alles zum Einsatz kommen wird was unser bescheidenes Reisegepäck zu bieten hat. Das Busticket besorgen wir mühelos vor Ort. Die Anzahl an Busanbietern ist begrenzt und nahezu alle scheinen die gleichen Ziele anzusteuern. Die Busse sind nach den Uhrzeiten der Abfahrt sortiert. Das hilft nicht pünktlich zu starten, sorgt aber dafür, dass jeder am Ende in dem Bus sitzt für den er das Ticket erworben hat. Im Bus machen wir es uns gemütlich, hier verbringen wir die nächsten drei Stunden bis zum Anleger des Katamarans, der uns quer über den Lago Grey zum Camp Paine Grande bringt. Da Puerto Natales klein ist, befinden wir uns schon nach 20 Minuten außerhalb der Stadt und sind umgeben von einer prärieartigen Umgebung die mit kleinen Büschen und Seen durchsetzt ist. Der Wind peitscht die Wasseroberfläche des Pehoé Sees unsanft auf und erzeugt so immer wieder Regenbögen an der Wasseroberfläche. Wir sehen Guanakos, Flamingos und Schafe durch den von Bussen aufgewirbelten Staub. Die Straße wird bald zu einer Schotterpiste und entsprechend holprig geht die Fahrt bis zum Eingang des Nationalparks. Hier werden alle gebeten auszusteigen und entweder die Tickets für den Park zu kaufen, oder die bereits erworbenen Tickets den Parkrangern vorzuzeigen. Wir bezahlen 80 EUR für zwei Personen für bis zu acht Tage Aufenthalt im Park. Obwohl der ganze Prozess etwas hektisch wirkt und nie wirklich erklärt wird, sondern sich vielmehr automatisch zu ergeben scheint, sind die Parkranger auffallend freundlich und entspannt. Die Atmosphäre stimmt also. Dazu passt, dass uns während des gesamten Aufenthaltes im Park nie wieder jemand nach dem Ticket fragen wird. 

Zurück im Bus geht es eine weitere Stunde weiter über Schotterpisten zum Bootsanleger. Durch die unverkennbare Vibration von rutschenden Reifen auf losem Untergrund spühren wir wie der Fahrer gekonnt mit dem Reisebus über die Schotterschraße driftet. Aus dem Bus ausgestiegen schlägt uns der Wind wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Ich habe Mühe Brille und Mütze bei mir zu behalten und den aussteigenden Gästen wird alles was nicht fest an Körper und Rücksack fixiert ist, aus dem Besitz gerissen und mit mühevollen Sprints über den Parkplatz wieder eingesammelt. Amüsiert gucken wir hinter den fliegenden Isomatten und ihren Besitzern hinterher. 

Dank des ambitionierten Fahrstils unseres Fahrers der offensichtlich verstanden hat in seinem Job Spaß zu haben, haben wir Zeit für einen Kaffee in der kleinen Cafeteria am Anleger. Hier brennt ein Kamin und es gibt eine erste Erholung vom kalten, heftigen Wind mit dem der Nationalpark uns begrüßt hat. Es wird eine von wenigen Erholungen dieser Art sein für die nächsten drei Tage. 

In der Schlange zum Katamaran finden wir uns in einer Horde wanderlustiger Menschen wieder, die bis an die Zähne mit Funktionskleidung und Campingequipment bewaffnet darauf warten, mit uns auf das Boot zu kommen. Die Tickets dafür werden an Board besorgt und es herrscht eine leichte First Come First Server Anspannung. Wir stehen relativ weit vorne in der Schlange und nehmen alles mit gelassener Entspannung war. An Board angekommen und um ca. 25 EUR pro Person erleichtert, wagen wir uns auf das Deck mit dem Ziel, uns dem Wind zu stellen und so noch vor Ankunft im Camp die Aussicht auf die Berge zu genießen. 20 Minuten später verkriechen wir uns kleinlaut und durchnässt unter Deck in der Hoffnung dass unsere Kleidung wie durch ein Wunder bis zum Beginn der Wanderung wieder trocknet. 

Das Einchecken auf dem Campingplatz verläuft ähnlich entspannt wie der Einlass in den Nationalpark. So können wir uns ganz der nächsten Herausforderung wittmen: Das Aufbauen des Zeltes bei Wind und Regen ohne die nötigen Heringe, die wir im Hostel beim Einpacken vergessen haben. 

Auf dem Campingplatz befinden sich zum Glück kleine rechtwinklig angeordnete Zaunelemente die einzelne Zeltplätze vor Wind und gegebenenfalls fliegenden Teilen schützen sollen. So haben wir schonmal an zwei Wänden Fixpunkte um das Oberzelt anzuspannen. Für den Rest geht Nina mit wachem Auge über den Campingplatz und findet einige in der Erde zurückgelassene Heringe, verschiedener Formen und verschiedener Stadien ihres witterungsbedingten Verfalls. Bevor wir losziehen legen wir noch einige schwere Steine in die Ecken des Zeltes um sicher zu gehen. Am Abend lernen wir, dass die Parkranger vor der Nacht gratis und gerne mit Heringen aushelfen. 

Das Zelt steht und wir machen uns auf den Weg zu einem Aussichtspunkt am Rand des Pehoé Sees. Es ist zu spät, um die ursprünglich geplante Wanderung zum Mirador Británico schaffen zu können, außerdem hat man uns gesagt, dass der Weg wegen des heftigen Windes früh geschlossen wird. Die kurze Wanderung ist ein guter Testlauf für unser Equipment. Der Wind peitsch uns mit wütenden regenschwangeren Böen ins Gesicht und macht es uns unmöglich den Kurs zu halten. Wie ein Spielball weht es uns regelmäßig mehrerer Meter nach links und rechts. Wir verstehen warum der Weg für den Tag geschlossen wird und lernen, dass es nicht einfach ist beurteilen zu können, ob der Vorteil der Ponchos des Schutzes gegen Wasser wirklich den Nachteil der segelartigen Angriffsfläche für den Wind aufwiegt. Dennoch kämpfen wir uns bis zum Aussichtspunkt durch und werden auf dem Rückweg quasi als Trophäe mit einem Fuchs belohnt der schüchtern und neugierig unseren Weg kreuzt. 

Zurück im Camp machen wir uns dran mit dem mitgebrachten Kochequipment in dem Gemeinschaftsraum des Camps unser Abendessen zuzubereiten: Nudeln mit Tomatensoße. Wir schließen schnell Bekanntschaften und hören uns gerne die Erfahrungen der Leute an die schon ein paar Tage unterwegs sind und das erlebt haben, das auf uns zukommen wird. Einige der Gesichter werden wir in den nächsten Tagen immer wieder begegnen. 

Nach dem Essen machen wir mit einer weiteren unangenehmen Begleiterscheinung des Windes Bekanntschaft. Durch das viele Zelten auf dem Platz sind einige stellen nicht mehr begrünt, sondern mit einer staubigen Sandschicht bedeckt. So auch der kleine Fleck Erde auf dem unser Zelt steht. Der Wind wirbelt diesen Staub mit jeder Böe auf und trägt ihn zielsicher unter das Oberzelt, sodass er von dort gemächlich durch die Lüftungsgitter in das Innenzelt rieselt. Long Story Short – unser gesamtes Inventar ist mit einer Millimeter dicken Staubschicht bedeckt. Wir können uns zwar davon befreien, indem wir alles einmal im Wind ordentlich ausschütteln, können aber nicht verhindern, dass wir nach einer lauten und regnerischen Nacht am nächsten Morgen unter der selben Staubschicht aufwachen und eher aussehen wie Bergarbeiter als wie Camper vor Aufbruch zur eigentlichen Wanderung.

Wir nehmen es mit Humor und finden uns mit dem neu erworbenen Mienenarbeiter-Look ab. Das Zelt ist schnell abgebaut und wir befinden uns früh und voll bepackt auf dem Weg zu unserem Ziel, dem Gletscher Grey.

Der Weg führt uns durch Wälder, Felder, Felsen und an vielen Aussichtspunkten vorbei. Das Wetter kann sich den ganzen Tag zwischen Wind & Sonne und Wind & Regen nicht entscheiden und wir wechseln unser Outfit regelmäßig durch. Der Weg ist anstrengend aber schön und trotz der High Season sind wir häufig alleine. Links neben uns haben wir immer wieder Ausblick auf den See.  Die leuchtend blauen Eisschollen des Gletschers, die im See treiben machen Vorfreude darauf den Gletscher aus nächster Nähe zu sehen. Nach ca. 11 km erreichen wir das nächste Camp. Hier oben ist es windstill und wir bauen in aller Ruhe unser Zelt auf und sind Just in Time vor dem nächsten Regenschauer fertig. Obwohl der Tag bis hier hin schon ordentlich an den Kräften gezerrt hat machen wir uns ohne große Pause auf den Weg zur letzten 5 km Etappe zu den Hängebrücken und zum Blick über den Gletscher. Auf dem Weg dahin kommen uns mehrere Wandergruppen entgegen von denen wir mit einigen ins Gespräch kommen. Einen Hinweis hören wir gebetsmühlenartig immer wieder „geht nach der zweiten Hängebrücke noch fünf Minuten weiter den Pfad entlang, dort ist ein Aussichtspunkt mit einem Blick auf den Gletscher der alle vorherigen in den Schatten stellt“. 

Die Hinweise motivieren uns die letzen Kräfte zu mobilisieren und so arbeiten wir uns euphorisch weiter zum Ziel. Die erste und zweite Hängebrücke, die uns von unserem Ziel trennen stellen sich als lange Brücken über Felsspalten dar, die zwar mit Warnschildern darauf Hinweisen, dass die maximale Kapazität zwei Personen sind, auf uns aber einen soliden Eindruck machen und auch wenn der Übergang wackelig ist, absolut vertrauenswürdig scheinen. 

Der viel gepredigte Rat des Aussichtspunktes hinter der 2. Hängebrücke stellt sich keineswegs als übertrieben dar. Von zwei Felsenvorsprüngen aus fühlt man sich dem Gletscher so nah wie an keinem anderen Punkt zuvor. Gemütlich und sicher können wir uns auf den Felsrand setzen und das Bild der Eismassen, die sich in einem nicht wahrnehmbar langsamen Prozess in den Lago Grey schieben, auf uns wirken lassen. Erst hier scheint man wirklich zu verstehen wie sich der Gletscher, obwohl aus festem Eis bestehend, in einem unendlich langsamen Spiel augenscheinlich wie ein reißender Fluss und dennoch im Stillstand um den Felsen windet und Stück für Stück in den See bricht, indem die Transformation der Eisschollen zu Seewasser langsam aber unaufhaltsam stattfindet.

Der Rückweg zum Camp kommt uns wie ein Spaziergang vor und wir belohnen uns Abends mit einer kalten Dusche und der nächsten Ration unseres mitgebrachten Essens, einer Cup of Noodels, etwas Brot und zwei Eiern die wir uns im Minimarkt des Camps besorg haben. Die Nacht ist wie gewohnt windig und regnerisch, aber so haben wir es kennen und lieben gelernt. Am nächsten Tag starten wir nach einem warmen Frühstück in Ponchos eingepackt in den Regen und somit auf den Rückweg zum Camp Paine Grande. Durch den Wind fliegen uns die weiten Ponchos um die Ohren und wir improvisieren indem wir sie so gut es geht an den Rücksäcken befestigen. Durch den Perspektivwechsel des Weges in die andere Richtung nehmen wir die Umgebung, die geprägt von dem Ausblick auf den See und der Fauna des Nationalparks ist, auf eine neue Art wahr. Ich genieße zusätzlich das Spektakel, wie Nina vom Wind abwechselnd nach links und rechts gezwungen, in Schlangenlinien versucht den Korridor zuhalten. 

Auf den letzen 200 Metern des Weges sehen wir mit Blick auf den See Pehoé wie der Katamaran Just in Time auf den Anleger zufährt, um uns mit zurück zu nehmen. 

Am Parkplatz angekommen müssen wir lernen, dass die Busse, die von dort Richtung Puerto Natales zurück fahren, alle ausgebucht sind. In unserem naiven Leichtsinn dachten wir, wir könnten gleich der Hinfahrt am Busbahnhof auch hier einfach das Ticket kurz vor der Fahrt erwerben. Ich freunde mich schon mit dem Gedanken an im Zelt auf dem Parkplatz zu übernachten. Zum Glück lernen wir eine junge Frau aus Alabama kennen, die fließend spanisch spricht. Sie handelt für aus, dass der Busfahrer uns die erste Etappe für den halben Preis der Strecke nach Puerto Natales mitnimmt und sollten zwei der gebuchten Plätze unbesetzt bleiben, uns für die zweite Hälfte des Streckenpreises vollends mit zurück nimmt. Ein ehrlicher Mann. In unserer Situation hätten wir auch das Vierfache bezahlt. So steigen wir in den Bus, haben nicht nur einen Platz der bis zum Ziel nicht von den eigentlichen Eigentümern beansprucht wird, sondern sitzen auch noch auf der Beifahrerseite ganz vorne und können so die sportliche Fahrt mit dem Reisebus aus der ersten Reihe miterleben. Also geht es mit durchdrehenden Reifen und Staub aufwirbelnd die bekannte Strecke über Schotterstraßen wieder zurück. Das Schild, das unterwegs eine 30er Zone diktiert wird gekonnt ignoriert und ein Blick auf das Tacho des Buses verrät uns, dass es um das geschmeidige Doppelte überschritten wird. Naja der Fahrer weiß schon was er tut. 

Wie zu erwarten kommen wir drei Stunden später durchgeschüttelt, hungrig und müde am Ziel Busbahnhof in Puerto Natales wieder an